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Foto von Tony Badwy

Koloniale Praktiken hinterlassen bis heute ihre Spuren in der Wissenschaft – auch in der Paläontologie in Zürich.

Klara Soukup (Audio folgt bald...)

2021 zeigte eine Gruppe junger Paläontolog:innen auf, dass 97 Prozent aller Berichte über Fossilienfunde der letzten 30 Jahre weltweit von Forschenden aus wirtschaftlich gut situierten Staaten stammen. Dabei kommen die Fossilien meist aus anderen, oft ärmeren und ehemals kolonialisierten Ländern. Dazu kommt, dass ein frappierender Anteil der Studien ohne Forschende aus den Herkunftsländern der Knochen durchgeführt werden. Auch in der Schweiz: An mehr als der Hälfte aller von Schweizer Paläontolog:innen veröffentlichten Studien sind keine lokalen Wissenschaftler:innen beteiligt.

“Wir bezeichnen diese Praktik als Fallschirm-Wissenschaft”, erklärt Emma Dunne, eine der Studienautor:innen und Forscherin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Wie bei einem Fallschirmsprung landen Forschende des Globalen Nordens in anderen Ländern. Dort führen sie Ausgrabungen durch und entwenden die Fossilien anschliessend aus ihrem Herkunftskontext. Lokale Expert:innen werden dabei übergangen. Das Thema beschäftigt aktuell eine wachsende Gruppe kritischer Forschender weltweit. 

So auch Marcelo Sánchez, seit 2017 Direktor des Paläontologischen Instituts und Museums (PIM) Zürich. Er kümmert sich nicht nur um die Sammlungen des Museums, sondern ist auch in der Forschung aktiv und gut vertraut mit der Problematik. Ursprünglich aus Argentinien, ist er seit Beginn seiner Karriere  auf die Problematik sensibilisiert. Er erzählt davon, wie das Paläontologische Institut bei aktuellen Forschungsprojekten - wie zum Beispiel in Südamerika - eng mit Forschenden vor Ort zusammenzuarbeiten versucht: “Wir engagieren uns seit langem dafür, dass an unserem Institut keine Fallschirmwissenschaft betrieben wird. Stattdessen arbeiten wir eng mit Kollegen vor Ort, zum Beispiel in Argentinien und Venezuela, zusammen. Dabei ist gegenseitiger Respekt und Vertrauen am wichtigsten. Wir wollen einen echten, vernünftigen Austausch – und keine Alibi-Zusammenarbeit.”

Sein Team setzt sich dafür ein, dass in der paläontologischen Forschung tatsächlich internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe entsteht. Lokale Expert:innen werden von Anfang an in Feldstudien miteinbezogen. Dazu gehört auch das gemeinsame Schreiben von Artikeln, der Zugang zu Fundstücken und das Offenlegen von deren Herkunft. Beim Zugang zu den Funden ist am PIM ebenfalls einiges in Bewegung. Dabei spielen vor allem die Digitalisierung von Fundobjekten und der Aufbau virtueller Museen eine Rolle. Wichtige Informationen zu den Fossilien werden in Online-Datenbanken hinterlegt. So können die Objekte untersucht werden, ohne dass Fossilien oder Forschende kostspielige Reisen durch die Weltgeschichte antreten müssen. In Zürich wird so aktuell die historische Sammlung des schweizerisch-argentinischen Naturforschers Jakob (Santiago) Roth digitalisiert - eine umfassende Kollektion von Fossilien der Megafauna Südamerikas, zusammengetragen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. 

Die gute Nachricht ist, dass auch in anderen Schweizer Naturhistorischen Museen solche Projekte umgesetzt werden. Einige dieser Unternehmungen finden im Rahmen von “SwissCollNet” statt, einer Initiative der Schweizer Akademie der Naturwissenschaften, die die Schaffung einer schweizweiten virtuellen Sammlung unterstützt.

Doch was tun mit all den Objekten, die seit Jahrzehnten in Archiven des Globalen Nordens ruhen und aufgrund mangelnder Ressourcen nicht digital erfasst werden können? Emma Dunne und die internationale kritische Paläontolog:innen-Community pochen hier auf Transparenz. Sie fordern die Offenlegung der Umstände, unter denen Fundstücke in den Besitz von Universitäten oder Museumsarchiven gelangten. Neben dem Herkunftsort sollte klar beschrieben werden, unter welchen Umständen ein Fundstück die Reise in den Westen angetreten hat – also auch, ob möglicherweise unklare gesetzliche Verhältnisse herrschten. Ein derartiger Fall am Naturkundemuseum Karlsruhe sorgte kürzlich für weltweite Aufregung.

Hier ist der Weg noch ein wenig weiter, gibt Marcelo Sánchez zu. Es brauche einen Generationenwechsel, um die Kultur der Herangehensweise an die koloniale Vergangenheit der Paläontologie zu ändern. Dazu gehöre unter anderem die Bereitschaft, unbequeme Gespräche zu führen. Eine Konfliktfähigkeit, die in der Paläontologie so noch nicht sehr gängig sei. Es zeichnet sich aber ab, dass die kommende Generation durchaus bereit ist, sich dem Unbehagen zu stellen.

Klara Soukup ist promovierte Immunologin. Nach 10 Jahren in der immunonkologischen Forschung widmet sie sich heute ihrer grossen Leidenschaft: der Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte. Als Kommunikationsverantwortliche des Institut für universitäre Lehre und Forschung im Gesundheitwesen (IUFRS) der Uni Lausanne berichtet sie über Neuigkeiten zu Forschung und Lehre in der Gesundheitspflege. Nebenbei ist sie bei der Ideenschmiede «Reatch – Research.Think.Change.» aktiv, wo sie sich für einen nachhaltigen Dialog von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft einsetzt. Seit Herbst 2022 ist sie ausserdem wissenschaftsjournalistisch tätig - eine Aufgabe, der sie seit ihrer Weiterbildung im CAS Wissenschaftsjournalismus mit Begeisterung nachgeht.

Weiterführende Literatur :

Studie zur Herkunft paläontologischer Fundstücke (Dunne et al., Nature 2021): https://www.nature.com/articles/d41586-022-01423-6

Artikel zum Thema im Onlinemagazin Das Lamm: “Das grosse Umgraben” (Oktober 2022): https://daslamm.ch/das-grosse-umgraben/

Artikel zum Thema in National Geographic: “Paläontologie: Kolonialismus in der Forschung” (Januar 2022): https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/01/palaeontologie-herrscht-in-der-forschung-kolonialzeit-kolonialismus

Webseite des Paläontologischen Instituts und Museum (PIM) Zürich: https://www.pim.uzh.ch/de/museum/ueber.html

Forschungsaktivitäten von M. Sánchez : https://www.msanchezlab.net